(verpd) Die Regel, dass Fahrzeuge auf einer Autobahn Vorrang vor denjenigen Fahrzeugen haben, die auf diese Schnellstraße auffahren, gilt bei sogenanntem Stop-and-go-Verkehr nicht uneingeschränkt. Das geht aus einem Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm hervor (Az.: 4 RBs 117/18).
Einem Autofahrer war vorgeworfen worden, beim Auffahren auf eine Autobahn von einer Raststätte aus die Vorfahrt eines anderen Verkehrsteilnehmers verletzt zu haben. Er wurde daher vom Amtsgericht Siegen wegen eines Verstoßes gegen Paragraf 18 Absatz 3 StVO (Straßenverkehrsordnung), wonach der Verkehr auf durchgehenden Fahrbahnen auf Autobahnen Vorfahrt hat, zur Zahlung eines Bußgeldes in Höhe von 110 Euro verurteilt.
Der Beschuldigte war sich keiner Vorfahrtsverletzung bewusst. Er legte daher gegen seine Verurteilung Rechtsbeschwerde beim Oberlandesgericht Hamm ein. Dort errang er einen Etappensieg.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme staute sich zum Zeitpunkt des Zwischenfalls auf der Autobahn der Verkehr. Einem Autofahrer, der vor dem Beschuldigten von der Raststätte aus auf die Autobahn auffuhr, gelang es, in eine Lücke zwischen zwei Lastkraftwagen zu fahren.
Dieser Fahrer musste jedoch wegen des vor ihm stehenden Lkw anhalten, sodass es dem ihm folgenden Beschuldigten nicht gelang, ebenfalls vollständig in die Lücke einzufahren. Sein Fahrzeug kam vielmehr schräg zwischen dem Beschleunigungsstreifen und der rechten Fahrbahn der Autobahn zum Stehen.
Als kurz darauf der seitlich hinter dem Beschuldigten auf der Autobahn befindliche Sattelzug anfuhr, kam es zu einer Kollision. Das Amtsgericht warf dem Beschuldigten vor, sich nicht mit dessen Fahrer abgestimmt und seine Vorfahrt verletzt zu haben.
Daran, dass es tatsächlich zu einer Vorfahrtsverletzung gekommen war, hegten wiederum die Richter des Oberlandesgerichts Hamm erhebliche Zweifel. Sie gaben der Rechtsbeschwerde statt und wiesen den Fall zur erneuten Verhandlung an das Amtsgericht zurück.
Das Gericht stellte zwar nicht in Abrede, dass ein Auffahrender auf eine Autobahn auch dann das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs beachten muss, wenn zähfließender oder staubedingt Stop-and-go-Verkehr herrscht.
„Wie schon die gesetzliche Formulierung ‚Vorfahrt‘ zeigt, muss allerdings ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn herrschen, da ansonsten nicht von einer ‚Fahrt‘ gesprochen werden kann. Steht der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn, gibt es keine ‚Vorfahrt‘, die Vorrang haben kann“, so das Gericht.
Das bedeutet nach Ansicht der Richter allerdings nicht, dass die Vorfahrtsregeln bei jeglichem verkehrsbedingten Halt auf der durchgängigen Fahrbahn nicht zur Anwendung kommen. Sie seien vielmehr erst dann aufgehoben, wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen kommt, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzester Frist nicht zu rechnen ist. Nach Aussage des als Zeugen vernommenen Fahrers des Sattelzuges hatte dieser etwa drei bis vier Minuten gestanden, ehe er weiterfahren konnte.
Dazu hat das Amtsgericht jedoch keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Der Fall wurde daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung wieder an das Amtsgericht zurückverwiesen. Sollte tatsächlich eine so lange Standzeit geherrscht haben, so kann dem Beschuldigten nach Meinung des Oberlandesgerichts Hamm keine Vorfahrtsverletzung vorgeworfen werden, wegen der er verurteilt werden könnte.
In der neuen Verhandlung habe sich laut dem Oberlandesgericht das Amtsgericht zudem mit der Frage zu befassen, ob dem Beschuldigten ein Verstoß gegen Paragraf 1 Absatz 2 StVO vorzuwerfen ist. Darin heißt es: „Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“ Es ist zu klären, ob der Pkw-Fahrer so dicht vor dem stehenden Sattelzug aufgefahren ist, dass der Lkw-Fahrer ihn wegen des toten Winkels nicht wahrnehmen konnte.