(verpd) Einen umfangreichen und schwer verständlichen Altersrentenbescheid aufmerksam zu Ende zu lesen, übersteigt in der Regel die an einen durchschnittlichen Rentenversicherten zu richtenden Sorgfaltsanforderungen. Das hat das Sozialgericht Karlsruhe entschieden (S 12 R 1017/21).
Ein 1953 geborener Mann hatte im Alter von 14 Jahren eine Berufsausbildung zum Maler begonnen. Zuletzt war er 30 Jahre lang als Gärtner rentenversicherungs-pflichtig beschäftigt. Im Jahr 1992 wurde er von seiner Ehefrau geschieden. In dem Scheidungsurteil wurde ein Versorgungsausgleich bezüglich der während der Ehe erworbenen Rentenanwartschaften des Mannes festgelegt.
Dieser beantragte im Jahr 2017 eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte. Die wurde ihm bewilligt. Dabei wurde jedoch der Betrag, der seiner Ex-Frau wegen des Versorgungsausgleichs zustand, nicht von der Rente abgezogen. Vielmehr wurde die Summe versehentlich der Rente des Gärtners zugeschlagen.
Der Fehler wurde von dem Rentenversicherungs-Träger erst bemerkt, als die Ex-Frau im Jahr 2019 selbst Rente beantragte. Der Rentenversicherer forderte den überzahlten Betrag in Höhe von fast 7.000 Euro daher von dem Rentner zurück.
Weil der Rentenversicherungs-Träger selbst für den Fehler verantwortlich war, verzichtete er nach einem Widerspruch des Mannes zwar auf ein Drittel seiner Forderung, dennoch sah er den Rückzahlungsanspruch grundsätzlich als gerechtfertigt an.
Er begründete dies damit, dass auf der Seite 28 des 34-seitigen Rentenbescheides die fehlerhafte Berechnung klar zu erkennen gewesen sei. Denn dort wurde darauf hingewiesen, dass der Versorgungsausgleich zugunsten und nicht zulasten des Rentners durchgeführt worden sei.
Der Mann reichte schließlich Klage gegen den Rentenversicherungs-Träger ein. Darin berief er sich auf Vertrauensschutz. Denn er habe die überzahlte Rente im Vertrauen auf die Richtigkeit des Rentenbescheides ausgegeben. Im Übrigen habe er den umfangreichen Bescheid nicht verstanden. Der Fehler sei für ihn als juristischen Laien auch nicht erkennbar gewesen.
Dafür zeigten die Richter des Karlsruher Sozialgerichts Verständnis. Sie hielten den Rückforderungsanspruch des Rentenversicherers für unbegründet und gaben der Klage des Rentners statt.
Ein Anspruch auf Rückforderung des überzahlten Betrags hätte nach Ansicht des Gerichts nur bestanden, wenn man dem Kläger grobe Fahrlässigkeit hätte vorwerfen können. Ein solcher Vorwurf wäre jedoch nur dann berechtigt gewesen, wenn ihm der Fehler nach seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten geradezu „in die Augen hätte springen müssen“. Davon gingen die Richter jedoch nicht aus.
Angesichts des Bildungsniveaus des Klägers liege es fern, von ihm eine verständige Lektüre eines mehr als 34-seitigen Rentenbescheides nebst anliegendem Vordruck mit „Hinweisen und Erläuterungen zum Rentenbescheid“ zu erwarten.
Derartige Bescheide weisen in weiten Teilen eine unumgänglich komplizierte Darstellung auf und würden deswegen von Angehörigen sehr breiter Bevölkerungsschichten „als ein bürokratisches und schlechterdings unbegreifliches Ungetüm“ angesehen.
„Selbst doppelt staatsexaminierte Volljuristen beherrschen dieses hochkomplexe Rechtsinstitut regelmäßig allenfalls in Grundzügen, und zwar selbst dann, wenn sie zufällig einen familienrechtlichen oder sozialrechtlichen Studienschwerpunkt gewählt haben und fachlich überdurchschnittlich befähigt sind“, so das Gericht.
Ein durchschnittlicher Rentenversicherter genüge seinen Sorgfaltspflichten daher auch dann, „wenn er von dem untauglichen Versuch, ein Verständnis derartiger Bescheide zu entwickeln, nach der probeweisen Lektüre der ersten ein bis zwei Seiten Abstand nimmt“. Eine Ausnahme hiervon gelte nur für jene Fälle, in denen die errechnete Rentenhöhe erheblich von der in Anbetracht des individuellen Versicherungsverlaufs zu erwartenden Rentenhöhe abweicht.
Im Übrigen seien Rentenempfänger mit niedrigem Bildungsniveau nicht dazu verpflichtet, wiederholt ihren Bewilligungsbescheid vollständig zu studieren, obwohl dies zu nichts führt, weil der Bescheid für sie persönlich ein Buch mit sieben Siegeln bleibe.
Das gelte insbesondere auch angesichts der Länge des Rentenbescheids des Klägers. Denn selbst Berufsrichter erster und zweiter Instanz würden vor Textlängen jenseits der zwanzigsten Seite zuweilen kapitulieren.
Wie die Gerichtsfälle zeigen, kann es durchaus sinnvoll sein, sich gerichtlich gegen das Vorgehen eines Sozialversicherungs-Trägers – im geschilderten Fall waren es ein Träger der gesetzlichen Rentenversicherung – zu wehren.
Zwar sind Verfahren vor einem Sozialgericht bezüglich der Gerichtskosten und einschließlich der gerichtlich eingeholten Gutachten für die in der Sozialversicherung Versicherten und für die Leistungsempfänger sowie für behinderte Menschen kostenlos.
Allerdings muss man die eigenen Rechtsanwaltskosten, sofern man den Gerichtsprozess verloren oder einem Vergleich zugestimmt hat, in der Regel selbst übernehmen. Um auch dieses Kostenrisiko zu vermeiden, hilft eine Privat- und Berufsrechtsschutz-Versicherung.
Eine derartige Rechtsschutz-Police übernimmt im Streitfall unter anderem die Anwaltskosten bei einem Sozialgerichtsstreit, wenn Aussicht auf Erfolg besteht und vorab eine Leistungszusage durch den Rechtsschutzversicherer erteilt wurde. Eine solche Police zahlt aber auch bei zahlreichen anderen Auseinandersetzungen, wie beim Einklagen von Schadenersatz und Schmerzensgeld sowie beim Streit mit dem Arbeitgeber, die anfallenden Gerichts- und Anwaltskosten.